Buxy

In Culemborg am Lek lebte vor Jahren, als Königin Beatrix noch ihre großen blauen Hüte trug, ein Lederfabrikant mit seiner Familie. Er hatte sich auf Sitzkissen spezialisiert. Die flache Landschaft um das Städtchen wirkte fast parkähnlich mit ihren Büschen, dem hohen Gras und den vereinzelten Laubbäumen, worauf sich eine Krähenkolonie eingenistet hatte. Bruce, der 14-jährige Sohn des Fabrikanten, ging dort oft spazieren, gewöhnte sich an die Krähen, hörte ihnen geduldig zu und lernte allmählich ihre Sprache. Diese ist zwar nicht besonders melodisch, aber ausdrucksstark. An einem Frühlingstag fand Bruce ein Krähenküken, das durch den Sturm aus dem Nest geweht worden war. Das arme Tierchen, noch ohne das schwarze Federkleid, konnte weder fliegen noch laufen. Es hüpfte hilflos im Gras umher.

Bruce wusste, dass die Krähenmutter das Junge nicht mehr annehmen würde. Also trug er es nach Hause, wo das Echo unterschiedlich ausfiel. Die Mutter lehnte die junge Krähe kategorisch ab, der Vater nahm eine abwartende Haltung ein. Bruce setzte sich jedoch durch. Er baute einen Holzkorb um, indem er ihn auf den Kopf stellte, setzte die Krähe hinein, nannte sie fortan „Buxy“ und fütterte sie zunächst mit Brotkrumen und Milch, später mit Katzenfutter und Wasser.

Der Vater brachte ab und zu aus einer Tierhandlung in Utrecht Heuschrecken und Mehlwürmer mit. Diese fraß Buxy mit besonderem Vergnügen, wenn sie auch bedauerte, sie nicht selbst gefangen zu haben. Buxys Tagesablauf war so geregelt, dass sie morgens nach dem Verlassen des Käfigs zunächst das „Flügelschwingen“ übte, um die Glieder aufzulockern. Außerdem hüpfte sie bei der Morgengymnastik in Bruces Zimmer eine halbe Stunde auf und ab, um starke „Krähenfüße“ zu bekommen. Danach nahm sie ihr Frühstück ein, wozu sie sich vor Bruce hinhockte, jämmerlich kreischte und mit den Flügeln schlug. War sie satt, murmelte sie: Hou op! (Hau ab!) . Den Tag verbrachte sie immer im Garten. Die holländische Sprache lernte Buxy - wie andere Kinder auch -nach ihren persönlichen Bedürfnissen, nicht nach den Geboten der Höflichkeit. So waren ihren nächsten Sätze: 1k heb honger! (Ich habe Hunger!) / Ik heb dorst! (Ich habe Durst!) / Geef me noch wat! (Gib mir noch etwas!). Dazu kamen durch die Gewöhnung an den menschlichen Alltag: Waar is de badkamer? (Wo ist die Badewanne?) / Blyf by my! (Bleib bei mir!) / Ga weg uit myn terretorium! (Verschwinde aus meinem Revier!) Und schließlich: Goeden Morgen! Goeden Dag! Goeden Avand! Hoe gaat het mit jouw? (Wie geht es dir?). Die Familie hatte sich längst an Buxy, die stubenrein wurde, gewöhnt, auch daran, dass sie sich im Garten „ihren Baum“ ausgesucht hatte, auf dem sie sich tagsüber aufhielt, wo sie schlief und von wo sie Ausschau hielt. Die Krähenkolonie wusste natürlich von Buxys Anwesenheit und davon, dass sie wegen ihrer schweren Kindheitserlebnisse kaum die Krähensprache beherrschte. Also beschloss der „Krähenrat“, dem die ältesten und erfahrensten Tiere angehörten, dass man in Buxys Nähe besonders langsam und deutlich sprechen solle, damit sich Fortschritte einstellten. Andererseits waren die flexiblen Krähen bereit, einiges von Buxys holländischem Wortschatz zu übernehmen. So kam der Herbst. Buxy war inzwischen eine ausgewachsene Krähe mit schwarzen Augen und glänzendem schwarzen Gefieder geworden. Für Bruce, der das längst geahnt hatte, und für die Familie war es keine Überraschung, dass Buxy ihre Besuche bei der Verwandtschaft immer mehr ausdehnte, bis sie schließlich in der Kolonie blieb.

Später ist Bruce seinem Vater beruflich nicht gefolgt. Seine Tierliebe hat ihn Förster werden lassen. Das Revier umfasst heute auch die Krähenkolonie, die er fast täglich aufsucht. Für Touristen und Schulklassen macht Bruce (nach Anmeldung!) einmal in der Woche Führungen zu den „Krähen von Culemborg“. Diese zeigen dann verschiedene Formationsflüge im Verband und Kunstflüge mit Scheinangriffen auf Bodenziele, um schließlich zu landen und die verblüfften Zuschauer in holländischer Sprache zu begrüßen und ins Gespräch zu ziehen. Buxy spielt dabei eine Vermittlerrolle: Sie sitzt während der Schau auf Bruces Schultern und achtet auf die guten Manieren der jungen Krähen und der jungen Besucher.

Wolfgang Viehweger

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