Souris
In der Bucht von Alistro an der Ostküste Korsikas hat eine meiner Bekannten,
Frau Gerhild Klaetke, ihr Ferienhaus. Es liegt mitten in einem
liebevoll gepflegten Palmengarten mit Bougainvillea, Lavendel, Myrthe
und Rosmarin.
Während der Sommerferien hatte ich dort immer wieder eine rote
Katze beobachtet, die sich im Garten so selbstverständlich aufhielt,
dass ich mich nie nach ihr erkundigte. Gewohnheiten wecken eben keine
Neugier. Als ich aber im Sommer 2003 das Tier nicht bemerkte, fragte
ich Frau Klaetke nach der Katze und erfuhr, dass sie vor einiger Zeit verstorben
sei. Meine Bekannte erzählte mir dann das Schicksal des Findelkindes
„Souris“ (Maus), das 13 Jahre bei ihr gelebt hatte.
Im Frühjahr 1990 tauchte aus der längst geschlossenen Ferienanlage
„Tropica“ eine rote Macchia-Katze bei Frau Klaetke auf und bat um etwas
Nahrung. Die Katzenliebhaberin erfüllte den Wunsch gern, da sie auch sah, dass das Tier hochträchtig war.
Eines Morgens lagen auf der Matte vor dem Haus fünf rote Kätzchen,
die dort geboren worden waren. Die Katzenmutter ließ nicht zu,
dass Frau Klaetke die junge Familie mit ins Haus nahm, sondern wollte
vor der Tür bleiben.
Einige Tage später waren die Tiere verschwunden. Die Mutter hatte
die Jungen in die Macchia gebracht, um sie so frei aufzuziehen, wie sie
selbst erzogen worden war. Ausgerechnet in dieser Zeit gab es auf Korsika
sintflutartige Regenfälle, die so heftig waren, dass das Wasser hoch
im Land stand und nicht abzog.
Zur Überraschung von Frau Klaetke lag nach einem dieser Regentage
die rote Katzenmutter mit ihren fünf Jungen wieder auf der Matte
vor der Haustür. Allerdings waren vier von ihnen tot, nur eines hatte
überlebt.
Offenbar hatte die Mutter die Jungen vor dem Regen nicht mehr
rechtzeitig retten können, weil sie ja eines nach dem anderen aus der
Macchia zum Haus tragen musste. So hatte lediglich das erste Kind, das
Frau Klaetke „Souris“ nannte, überlebt, während die anderen ertrunken
waren, ohne dass die Mutter die Rettungsaktion deshalb abbrach.
Die Katze ließ zwar zu, dass sie und ihre Tochter vor der Tür gefüttert
wurden, ansonsten aber trug sie ihr Kind immer wieder in die Macchia,
und zwar so geschickt und heimlich, dass Frau Klaetke nicht wusste, wo
die Tiere sich aufhielten.
Als Souris immer größer und schwerer wurde, hörte ihre Mutter nicht
auf, sie immer noch wie ein Baby herumzuschleppen, was bei der Tochter
zu Bisswunden und Abszessen im Nackenbereich führte, weil das Fell
an manchen Stellen durchgebissen war.
Frau Klaetke sah sich schließlich gezwungen, auf die übertriebene
Mutterliebe keine Rücksicht mehr zu nehmen. Sie fing das verletzte
Kätzchen ein und brachte es zum Tierarzt, der die Wunden behandelte.
Von diesem Tag an blieb die Katzenmutter unsichtbar, da sie Frau
Klaetke den Eingriff in ihr Familienleben nicht verzieh. Souris aber
wurde gesund, bekam ein prächtiges rotes Fell und diente ihrer Ersatzmutter
13 Jahre lang als Freundin, Hausdame und Beraterin bei der Gartengestaltung.
Im Garten ist Souris bestattet worden und hat einen kleinen Findling
in Form einer Katze zum Gedenken erhalten.
Wolfgang Viehweger
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