Wie die Ziegen in den Emscherbruch gekommen sind

In alten Zeiten zog sich von Dortmund –entlang der Emscher – bis zu den Duisburger Rhein-Auen ein dichter Wald in einem Tal, das später „Emscherbruch“ genannt wurde. Er wurde bewohnt von Wildpferden und anderen Tieren, darunter ein Wolfsrudel mit dem Leitwolf Lupelmus.
Manche Ziegen hatten vergeblich versucht, in das Gebiet einzudringen, weil es dort reichlich Wasser, Wildkräuter und Büsche gab. Sie waren aber immer von den Wölfen angefallen worden, bis eine Ziegenfamilie einen Plan entwarf, der mit dem wölfischen Denken vertraut war und zum Erfolg führte:
Eines Tages schritt ein kleines Zicklein von Crange her in den Emscherbruch. Kaum hatte es den Wald erreicht, trat ihm der Leitwolf entgegen und wollte es zerreißen. Da sagte das Zicklein mit zitternder Stimme: „Meine Mutter kommt auch noch.“ Lupelmus ließ von der kleinen Ziege ab und dachte: „Die Mutter ist ein größerer Fraß für mich als das armselige Junge.“ Bald darauf erschien die stattliche Ziegenmutter, die den Namen „Capra“ trug. Schon wollte der Wolf über sie herfallen, als sie rief: „Mein Mann Capricius kommt ebenfalls hierher!“ „Halt“, dachte der Wolf, „warte mit der Mahlzeit, bis der Mann kommt.“ Schließlich kam der Ziegenbock gravitätisch daher. Dem Wolf lachte das Herz im Leib, als er den großen und gut genährten Bock erblickte. Schon machte er sich zum Sprung bereit, da erregten die Hörner am Kopf des Gegenübers seine Aufmerksamkeit. „Sag’ mir doch“, fragte er neugierig, „was Du da auf dem Kopf trägst?“ „Nun ja“, erwiderte Capricius gelassen, „das sind meine Waffen, zwei scharfe Dolche.“
Der Wolf war erschrocken und überlegte, was er machen solle. In dem Moment senkte der Ziegenbock den mächtigen Kopf und richtete die Hörner auf seinen Gegner. Die Situation wurde dem Wolf unheimlich, er schlug sich in die Büsche. Auf diese Weise sind die Ziegen glücklich in den Emscherbruch gelangt. Ihre Nachkommenschaft hat sich so vermehrt, dass vom Mittelalter bis zur Neuzeit viele Bauern, die am Emscherbruch wohnten, neben Pferden und Kühen auch Ziegen als Haustiere hielten.Als die Industriezeit begann, waren die Ziegen in den Kolonien (Zechensiedlungen) der Bergleute ebenso gern gesehene Gäste. Sie hießen bei ihnen allerdings nicht Ziegen, sondern wurden „Bergmannskühe“ genannt.

Wolfgang Viehweger
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