Fuchsie

Dass der Fuchs das am weitesten verbreitete Raubtier in Europa ist, bei Nacht jagt und gern Mäuse frisst, wissen schon die jüngsten Schulkinder. Dass er in den europäischen Fabeln als Symbol der Schlauheit und Verschlagenheit gilt, wissen belesene Leute, die auch Tierfreunde sind.
Ein Graufuchs von silbern-rötlicher Farbe, mit hohen Beinen und einer sich von den Augen her verjüngenden Schnauze, was ihn – zusammen mit seinen schräg gestellten Augen – intelligent aussehen ließ, hatte sich sein Domizil im Kanton Graubünden ausgesucht, und zwar zwischen den Kurorten Valbella und Lenzerheide. Er beobachtete die Nachbarn sehr aufmerksam und bemerkte schließlich, dass die Betreiberin einer kleinen Pension für ihn und seine Bequemlichkeit geeignet schien. Die Frau, unscheinbar und nicht mehr jung, aber arbeitsam und eine hervorragende Köchin, hörte auf den Namen „Kätli“. Als der Fuchs den Namen immer wieder hörte und außerdem merkte, dass die Frau auch tierlieb war, was ein Hund und zwei Hauskatzen bewiesen, stellte er sich eines Tages um die Mittagszeit vor die Pension und rief mit hoher Stimme: „Kätli, Kätli!“
Diese kam nach einiger Zeit ans Küchenfenster und schaute nach dem Ruhestörer. Es war aber nicht ein Mensch, sondern ein Graufuchs, der mit ihr sprechen wollte. Leicht verwirrt entschied sie, dem Tier freundlich zu begegnen und brachte ihm Reste vom Bündner Fleisch als Wegzehrung. Nicht zu Unrecht nahm sie an, dass der Fuchs Hunger hatte. Dieser wartete ab, bis die Frau einige Schritte entfernt war, und fraß dann ohne Eile die ihm angebotene Nahrung. Obwohl er sich sonst nach Mahlzeiten nicht das Maul zu putzen pflegte, setzte er sich diesmal auf seine Hinterbeine und säuberte sich nach Katzenart abwechselnd mit dem rechten und dem linken Vorderbein das Gesicht. Das hatte er bei Kätlis Katzen gesehen und wollte der Besitzerin damit imponieren, was auch der Fall war.
Kätli war gerührt und bat den Fuchs, den sie spontan „Fuchsie“ nannte, doch wiederzukommen und ihr ab und zu Gesellschaft zu leisten. Dieser schaute sie aus seinen grünen Augen freundlich an und ging dann seines Weges, wobei er darauf achtete, dass seine Standarte (sein Schwanz) schräg nach oben stand und leicht wedelte. Das ist bei europäischen Füchsen ein Zeichen der Zufriedenheit.
Leider erwies sich Kätlis Vergesslichkeit und Fuchsies Raubtierinstinkt als eine gefährliche Mischung für die beginnende Freundschaft. Immer wieder ließ Kätli Gegenstände, wie Messer und Gabeln, auf den Tischen vor der Pension liegen, und genau so oft waren diese Gegenstände plötzlich verschwunden. Fuchsie brachte nämlich alles, was er stehlen konnte, in seine Höhle, um diese wohnlich auszuschmücken. Eines Tages allerdings ging er zu weit und gefährdete dadurch Kätlis Toleranz mit ihm. Die Frau ahnte nämlich schon einige Zeit, wer der geheimnisvolle Dieb war. Aus Chur hatte sie sich eine schöne Kalbslederhandtasche mitgebracht und legte sie eines Abends sorglos auf einen Tisch vor der Pension, als sich Fuchsie gerade auf einem Kontrollgang befand. Er packte die Tasche, lief eilig zu seinem Bau, bekam die Beute aber nicht durch den engen Zugang und begann zu meditieren.
Als er die Nutzlosigkeit seines Unternehmens einsah, nahm er die Tasche wieder auf und brachte sie zur Pension zurück. Dabei wurde er von einer Gesellschaft aus Parpan (einem Nachbarort von Valbella) beobachtet, die bei Kätli eingekehrt war und gerade beim Abendbrot saß. Es gab Rösti und Geschnetzeltes. Auch Kätli bemerkte den Freund, der die Tasche unbeschädigt ablegte. Seit diesem Ereignis war die Freundschaft zwischen der Frau und dem Fuchs unzertrennlich, weil Kätli annahm, dass ein Fremder die Handtasche gestohlen und Fuchsie sie dem Dieb wieder abgenommen hatte. Der Fuchs protestierte nicht gegen diese Vermutung. Allerdings fand er es wenig passend, dass Kätli den Vorfall den „Graubündner Nachrichten“ übermittelte, die einen großen Artikel brachten. Leider konnten die Reporter nur die Handtasche fotografieren. Fuchsie war nicht zu sehen, wenn die Leute aus der Stadt nach ihm suchten.
 

Wolfgang Viehweger

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