Achilles als Retter

 

Nie war der Schießhauer Ludwig Claer von der Zeche Unser Fritz den Weg zur Hängebank so zögernd gegangen wie an diesem Morgen. Es war ihm, als wolle eine geheimnisvolle Macht, die er nur ahnte, ihn daran hindern, zur Arbeit zu gehen. Dabei war es höchste Zeit. Der Verein „Letzter Korb“, so nannte man die Säumigen, die den letzten Korb zur Anfahrt benutzten, war an der Hängebank versammelt. Die Warnung klang immer noch in Ludwig nach und hemmte seinen Schritt. Er musste über sich selber lachen. Er war doch nicht abergläubisch. Die Natur hatte ihn mit beiden Beinen fest auf die Erde gestellt, seine Veranlagung hatte ihn vor dummen Gedanken bewahrt.

Dann kommt Ludwig an den Schacht und sieht, wie der vorletzte Korb in die Tiefe schwebt. Er steht in unmittelbarer Nähe des Zuganges. Das Tor ist geöffnet. Da ergreift Ludwig ein Schwindel. Hals über Kopf stürzt er in den Schacht. Jähes Erschrecken befällt die Kumpel, sie stehen wie gelähmt da, während die Schwerkraft Ludwig Claer in die Tiefe reißt. Im Fallen umschlingt er mit beiden Armen die Spurlatte und hängt nun daran, er gewinnt etwas Zeit. Jeden Augenblick kann jedoch der nächste Korb von oben kommen und ihn zermalmen. Er muss vor ihm unten sein. In diesem Moment wird er ohnmächtig und merkt nicht mehr, dass der Berggeist Achilles ihn blitzschnell aufnimmt und mit ihm durch den Schacht bis zur Sprengstoffkammer fliegt. Dort legt er in seiner hintergründigen Art den verunglückten Schießhauer vor der Tür ab und verschwindet. Als Ludwig wach wird, ist es ihm, als habe die Schwerkraft ihre Wirkung auf seinen Körper verloren. Einige Kumpel stehen neben ihm und staunen, weil er unverletzt ist. Sein Freund Peter Petersen fragt nach einer Weile scheinbar ungerührt: „Ludwig, wo wolltest Du denn so eilig hin?“

(Die Zeche Unser Fritz wurde am 18. September 1871 vom Kaufmann und Bergwerksdirektor Friedrich Grillo aus Essen im Wanner Norden gegründet. Die Vorfahren Grillos stammten aus dem Veltlintal zwischen dem Comer See und dem Stilfser Joch in der Lombardei. Am 15. März 1873 wurde das Steinkohlengebirge erreicht und mit einer Belegschaft von 530 Mann die Förderung aufgenommen. Die Zeche Unser Fritz hatte eine günstige Lage an der Köln-Mindener-Eisenbahn und am Rhein-Herne-Kanal. Außerdem besaß sie einen eigenen Bahnhof. 1967 wurde die Förderung eingestellt. Heute befindet sich auf dem Gelände der Schächte II/III die Künstlerkolonie Unser Fritz.)

Wolfgang Viehweger

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