Der kleine Igel
In Herne lebte vor Jahren eine Igelin mit ihrem Sohn, dem sie den Namen
Olaf gab, im Unterholz eines kleinen Gartens.
Beide waren zufrieden: die Igelin, weil Olaf gut heranwuchs und -
obwohl er erst im August geboren worden war - wahrscheinlich bis zum
Beginn des Winterschlafes (Anfang November) seine 800 Gramm Mindestgewicht
haben würde. Olaf war glücklich, weil ihm seine Mutter beibrachte,
wie und wo man fette Schnecken fing, auf welche Weise man
dem dicken Kater Bubi begegnete, der eigentlich Herr des Gartens war,
und wann man am besten ein bißchen Katzenfutter bekam, das eine tierliebe
Menschenfrau täglich in den Garten brachte.
Anfang November gähnte die Igelmutter mehrmals ausgiebig, streckte
sich dann unter dem Kriechwacholder, wo sie mit Olaf wohnte, lang
aus und begann ihren Winterschlaf, der bis Anfang Mai des nächsten
Jahres dauern sollte. Aber - oh weh!
Sie hatte vergessen, Olaf zu sagen, daß auch er in den Winterschlaf
fallen sollte. Olaf war viel zu neugierig, als daß er sich still neben seine
schnarchende Mutter gelegt hätte. Und so kam es, daß er den ganzen
Winter hindurch als einziger Igel in Herne nachts im Garten herumstöberte.
Allerdings fand er kein Futter mehr, und deshalb hätte auch sein Körpergewicht
gefährlich abgenommen - wenn da nicht die Menschenfrau
gewesen wäre! Sie gab ihm weiterhin Wasser, Milch und Katzenfutter -
sehr zum Unwillen des Katers Bubi!
Außerdem riet sie Olaf jeden Tag, doch seinen Winterschlaf zu beginnen,
weil das Igel nun einmal täten. Doch Olaf verstand nicht und hielt
die Freundlichkeit der Menschenfrau für eine Aufforderung, sie oft zu
besuchen. Erst als die Mutter Anfang Mai aufwachte und Olaf fragte, ob
er denn seinen Winterschlaf mit angenehmen Träumen verbracht habe,
kam die Wahrheit heraus.
Im nächsten Jahr passierte nichts mehr Außergewöhnliches: Olaf
schlief wie seine Mutter und kratzte sich ab und zu nur deswegen, weil
er Flöhe hatte. Die Mutter hatte ihn überzeugt, daß Igel die kalte Jahreszeit einfach verschlafen.
Wolfgang Viehweger
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