Die Beckumer erwarten den Kaiser


Zeichnung von Wolfgang Ringhut 2001

Am Abend des 1. August 1914 trat Kaiser Wilhelm II., dessen Stahlhelm in der Abendsonne silbern glänzte, auf den Balkon des Berliner Schlosses und hielt seine erste Kriegsrede an das Volk. Bei dem Satz: „Wir sind alle deutsche Brüder und nur noch deutsche Brüder!“ weinte das Volk vor Rührung und war gern bereit, Gottesdienste für die ins Feld ziehenden deutschen Truppen zu besuchen, Kriegsspenden zu geben und seinen Patriotismus bei besonderen Anlässen zu zeigen.

Die Beckumer erfuhren die wichtige Nachricht von dem Fischhändler Theo Aalbrink, der ihnen jede Woche am Freitag frische Fische und Salzheringe lieferte. Da er ein Schalk war, erzählte er ihnen, dass der Kaiser zu Beginn des Jahres 1915 eine Rundreise durch Deutschland unternehmen werde und ausgerechnet an seinem Geburtstag, dem 27. Januar, in Beckum eintreffe. Die einfachen Leute bekamen vor Staunen die Mäuler nicht mehr zu und waren ratlos.
Am folgenden Freitag fragten sie den Fischhändler, wie man denn den Kaiser in Beckum empfangen solle. Theo Aalbrink witterte das große Geschäft und verriet ihnen, der Kaiser sei ein Pferdeliebhaber und esse gern geräucherten Aal. Wieder gerieten die Beckumer ins Grübeln und wussten nicht, wie sie Pferde und Aale beim Besuch des Kaisers präsentieren sollten.
Einen Freitag später berichtete ihnen Theo Aalbrink von einer Sitte der Leute in Crange, das jenseits der Emscher liege. Bei der Cranger Kirmes, die Anfang August stattfinde, werde auf einer Wiese ein drei Meter hoher Holzgalgen aufgebaut. An dem Querbalken hänge der dortige Fischhändler geräucherte Aale an Schnüren auf. Junge Burschen müssten dann unter dem Galgen herreiten und ihre Geschicklichkeit dadurch beweisen, dass sie im Galopp einen Aal ergriffen, wenn sie unter dem Galgen seien. Das Spiel nenne man in Crange „Aalreiten“. Die Beckumer waren begeistert. Bis zum 27. Januar 1915 wurde eifrig geübt. Fünfzehn junge Burschen sollten das Aalreiten vor dem Kaiser und seinem Gefolge demonstrieren. Für die Festlichkeit wurden 40 Pfund geräucherte Aale bei Theo Aalbrink bestellt. Obwohl der Kaiser nicht erschien, er kam auch in den nächsten Jahren nicht, hatten die Beckumer Spaß an dem Aalreiten, das nun zu ihrer Tradition gehörte und ihnen das Gefühl gab, gute Deutsche in schwerer Zeit zu sein. Auf Anraten des Fischhändlers, der an der Tradition trefflich verdiente, gründeten die Beckumer eine „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft“ und feierten jedes Jahr am 27. Januar auf ihre Weise Kaisers Geburtstag.
Als Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1941 im holländischen Exil starb, hatte er bis zu seinem Tod nichts von der Kaisertreue der Beckumer erfahren. Auch wenn er davon gewusst hätte, wäre er niemals nach Beckum gekommen; denn er hatte von Kindheit an eine „Pisciophobie“, eine seltene Fischallergie, welche zu Hautausschlag und Atemnot führte. Besonders geräucherte Aale lösten beim Kaiser heftige Reaktionen aus.

Wolfgang Viehweger
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