Semper idem


Vor der Seilfahrt (Linolschnitt von Karl Kilian)

Achilles, der Herner Berggeist, der aus der Vorzeit stammt, hatte alle Perioden der Erdentwicklung miterlebt, sowohl die Bildung von Senkungsräumen als auch die von Gebirgsfaltungen in Europa. Außerdem war er ein leidenschaftlicher Anhänger von Homer, der mit seinen Epen einen dichterischen Kreis anordnet, in dessen Mittelpunkt die Ilias und die Odyssee stehen. Es ist der „Trojanische Kreis“, wo Achilles eine bedeutende Rolle spielt. Nach Homer besteht das menschliche Leben aus einer ständigen Wiederkehr, den Gesetzen der Natur folgend, die nicht ganz vollkommen sind.

Für Achilles war es eine Majestätsbeleidigung, als er von einem jungen Steiger erfuhr, der sich mit Haut und Haar dem technischen Fortschritt verschrieben hatte und der Perfektion der immer neuen Maschinen vertraute, die auf der Zeche Mont Cenis in Sodingen eingeführt wurden. Sein Name war Jan Pelletier. Eines Tages sollte dieser zu einem Blindschacht auf die 8. Sohle fahren, um dort Wartungsarbeiten zu beaufsichtigen. Dahin führten zwei Körbe. Während der eine im Osten nur als Gegengewicht diente, wurde der westliche Korb für Förderung und Seilfahrt benutzt. Pelletier hielt eine telefonische Verständigung mit dem Fördermaschinisten für überflüssig, öffnete die Schiebetür des Korbes, der gerade ankam, prüfte auch nicht dessen Aussehen und sprang hinein. Der zog an und setzte sich rasselnd in Bewegung.
Mit Schaudern bemerkte plötzlich Jan Pelletier, dass er in den östlichen Korb gestiegen war. Der Boden war verrostet, es gab keine Haltestangen, das Salzwasser des Schachtes lief von oben herein und durchnässte ihn. In der Hoffnung, dass ihn jemand bemerke, rief er laut um Hilfe und klopfte an die Wände. Aber niemand hörte ihn. Wie immer förderte der Maschinist an diesem Tag nur mit dem westlichen Korb und kam nicht auf den Gedanken, dass ein lebendes Gegengewicht in dem anderen Korb saß. Vier Stunden musste Pelletier 600 Meter von unten nach oben und von oben nach unten fahren, bis seine Irrfahrt beendet war. Am Sohlenanschlag wartete ein unbekannter Bergmann, öffnete die Schiebetür und zog Pelletier, der sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte, aus dem östlichen Korb.

Die endlose Seilfahrt war noch lange ein Gesprächsstoff auf der Zeche Mont Cenis und diente allen zur Warnung, nicht ohne Aufsicht die Körbe zu benutzen. Für Jan Pelletier begann nach dem Ereignis die Einsicht in die eigene Unzulänglichkeit. Außerdem vertraute er nicht mehr blind der Perfektion der Technik.

Wolfgang Viehweger

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