Der Bohrer

Der Bohrer gehört nicht zu den sprachbegabten Schülern, auch für Mathe und Physik hat er wenig Interesse. Sein Können liegt auf dem Feld der angewandten Technik. Mit geschickter Hand beginnt er – mitten im Unterricht und bewundert von seinem Nebenmann – mit dem Zirkel ein kleines Loch in den Tisch zu bohren. Das erfordert Geduld. Wenn er die Lackschicht entfernt hat, arbeitet er mit dem Kugelschreiber weiter, indem er ihn kreisförmig im Loch dreht. Dieses wird dadurch immer größer und tiefer. Aber der Bohrer will mehr. Mit einem Schraubenzieher setzt er in der nächsten Stunde sein Werk fort, bis der Tisch durchbohrt ist. Das hängt natürlich vom Material ab. Bei einem massiven Holztisch dauert die Operation länger als bei einem Tisch aus Kunststoff.
Manche Bohrer erweitern das Loch so weit, dass sie eine Dose Cola hineinstellen können. Damit ist das Ziel erreicht, das sie zufrieden macht. Der Tisch verliert allerdings das Interesse der Bohrer, wenn das Loch alt und schmutzig wird. Sie bitten dann die Klassenlehrer, sich an einen anderen Tisch setzen zu dürfen, wo sie ein neues Loch bohren können. Auf diese Weise gibt es in manchen Schulen mehr Tische mit Bohrlöchern als mit unversehrten Tischplatten.

(„Früh übt sich, wer ein Meister werden will! Ein Loch ist nicht ein sinnloser Raum, sondern ein phantasievolles Gebilde, das von hoher technischer und künstlerischer Qualität seines Schöpfers zeugt.“ – Heinrich Pestalozzi)

Wolfgang Viehweger

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