Achilles und der weite Weg


„Geld verdienen, Familie gründen“ – dieses Lebensziel hatte Anton Kosolke aus Allenstein. Die guten Verdienstmöglichkeiten des Bergbaus lockten ihn weg von den Kartoffelfeldern seiner Heimat zu den Fördertürmen des Ruhrgebiets.
Bald prangte sein Name in der Liste der Belegschaft auf der Zeche Julia in Herne-Baukau. Bis zum Aufbruch hatten ihn Kumpel begleitet. Hier sollte er auf den Steiger warten. „Sind Sie der Frische (der Neue)?“, fragte ihn der Steiger. Kurz und bündig gab er seine Anweisungen. „Sie melden sich gleich auf Ort 2 zum Steine kippen.“ Dann bestieg er den Förderkorb, der ihn ebenfalls zum Ort 2 bringen sollte. Anton wollte ihm folgen, doch der Steiger wehrte ihn ab: „Sie müssen nach oben klettern!“ Sanft entschwebte der Förderkorb. Anton schaute ihm enttäuscht nach. Dann leuchtete er mit der Lampe in den Schacht. Vierkantige Holzbalken folgten einander, Meter um Meter. Sie rahmten den rechteckigen Hohlraum in gleichmäßiger Weise.
Der Berggeist Achilles, welcher das Gespräch angehört hatte, sah die Angst im Gesicht des Anton, als der den ersten Balken erfasste und sich hochzog. Er half ihm dabei, sich abzustützen und nach dem nächsten Balken zu greifen. Zwanzigmal die gleichen Klimmzüge und die gleichen Handgriffe. Der Abgrund unter Anton gähnte und griff immer wieder nach seinen Beinen, aber schließlich hatte er es geschafft. Trotz seiner Beschränktheit wusste er, dass er einen heimlichen Helfer bei der Klettertour gehabt hatte.
Am Anschlag auf Ort 2 sah der Steiger jemand aus dem Schacht steigen. Es war Anton Kosolke. Der Steiger hielt den Atem an. Er hatte es versäumt, dem Neuen zu sagen, dass er den Fahrschacht nehmen sollte, in dem Leitern ein ungefährliches Klettern ermöglichten. „Wo kommen Sie denn her?“, brach er das Schweigen, wobei sich sein Gewissen meldete. Anton fuhr sich durch das Gesicht und wischte den Schweiß ab, der ihn bei der Klettertour begleitet hatte: „Aus Allenstein“, sagte er, „das ist in der Nähe von Königsberg.“ Mitleid erfasste den Steiger. Das war wirklich ein weiter Weg, vor allem, wenn der Neue die letzten zwanzig Meter bis zum Ort 2 durch einen Förderschacht geklettert war.


Wolfgang Viehweger

zurück