Achilles und der Warnruf


Rudolf Scharpensel war Schießmeister auf der Zeche Pluto-Wilhelm in Wanne. Geradezu mechanisch hatte er bisher seine Arbeit getan, die darin bestand, dass er –vor dem Schuss- den Zünddraht an die Zündleitung anschloss, alle Zugänge sicherte und schließlich die Kurbel an der Zündmaschine betätigte, um den elektrischen Strom zum Zünder fließen zu lassen. Jedes Mal hatte er dabei laut gerufen: „Es brennt!“ Damit sollten unvorsichtige Kumpel von dem Gefahrenbereich ferngehalten werden. Diesmal jedoch, es handelte sich um eine Nachtschicht, übernahm eine fremde Stimme seinen Ruf. Bevor er noch dazu kam, erhob sich eine unmenschliche Stimme, laut und schrill, die den Warnruf ausstieß. Es war der Berggeist Achilles, der dem armen Schießmeister einen Streich spielte. Als der Schuss losging, fiel der beinahe vor Angst in Ohnmacht wegen des unheimlichen Geschehens.
Am nächsten Tag, es war ein Sonntagmorgen, ging Rudolf Scharpensel zur Kirche. Er war noch müde von der Nachtschicht und dem seltsamen Ereignis. Der Geistliche bestieg die Kanzel und forderte die andächtige Zuhörerschaft zur seelischen Erneuerung auf. Unterdessen kämpfte der Schießmeister gegen den Schlaf, der immer stärker nach ihm griff. Die Lider senkten sich, der Kopf sank auf die Brust. „Vater unser...“, betete der Geistliche gerade mit der frommen Gemeinde, da wachte Rudolf Scharpensel auf und brüllte: „Es brennt!“
Der Pfarrer verstummte, Verängstigte fuhren von den Sitzen auf, Blicke suchten den Warner und den Brandherd. Als die Bestürzung sich gelegt hatte und der Gottesdienst beendet war, trat Scharpensel voller Scham den Heimweg an. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich das Geschehen am nächsten Tag in der Belegschaft der Zeche Pluto-Wilhelm. Er wurde gehänselt von allen, die Sinn für Humor hatten. „Na, Rudolf, hat es gestern in der Kirche wirklich gebrannt?“
Der Gefragte antwortete ausweichend und schob das Ganze auf seine Müdigkeit nach der Nachtschicht. Die Wahrheit hätte ihm niemand geglaubt.


Wolfgang Viehweger

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