Bauer Beckebaum und sein „Hofmaler“

Etwa 200 m vom Hauptbahnhof Wanne-Eickel entfernt lag inmitten eines Eichenkamps Beckebaums Hof. Der einzige Sohn des Landwirts Wilhelm Beckebaum war eines Tages im Hofteich ertrunken, was den religiösen Vater veranlasste, noch mehr Trost bei Gott zu suchen.
Auf einer Eisenbahnfahrt nach Düsseldorf lernte Wilhelm Beckebaum einen jungen Maler kennen, der eigentlich ein gescheiterter Student der Kunstakademie in Düsseldorf war, jedoch behauptete, als er von Beckebaums religiöser Neigung erfuhr, er habe auf seinen ausgedehnten Auslandsreisen auch Jerusalem besucht, dort viele Motive skizziert und nach Hause mitgenommen. Beckebaum zeigte sich hoch erfreut und bot dem Künstler an, er könne die Wände einer Stube in seinem Haus mit Bildern von Jerusalem gestalten. Eine Wandmalerei aus dem Heiligen Land habe schließlich nicht jeder in Wanne. Man einigte sich über den Preis, zu dem Kost und Logis kommen sollten, da der Maler behauptete, seine Inspiration werde bei der Arbeit erheblich leiden, wenn er jeden Tag zwischen Düsseldorf und Wanne pendeln müsse.
Also erhielt er ein Eckzimmer mit zwei Fenstern und malte mit viel Fleiß in der angewiesenen Stube die Heilige Stadt Jerusalem mit dem Tempel, der Klagemauer, den Stadttoren und dem Ölberg. Die Ausführung erfolgte mit Wasserfarben, welche der Künstler seltsamerweise immer wieder aus Düsseldorf und Köln holen musste. Von Anfang an hatte er durchgesetzt, dass die Verpflegung seinem gehobenen Geschmack als Städter anzupassen sei. So lebte er den ganzen Sommer des Jahres 1880 herrlich und in Freuden auf dem Hof Beckebaum. Endlich war das Werk vollendet, der Künstler erhielt den vereinbarten Betrag und zog von dannen. Sein Name ist nicht überliefert. Genannt wurde er von den Nachbarn allgemein „Beckebaums Hofmaler“.

Im Jahr 1885 erwarb die Reichsbahn das 6 Morgen große Grundstück des Hofes mit Gebäuden für 62 000 Mark. Nun wollte aber Wilhelm Beckebaum sein „Jerusalem“ besonders bezahlt haben und verlangte dafür die Summe von 3000 Mark. Das erschien der Reichsbahn als überhöht. Weil auch monatelange Verhandlungen mit dem Landwirt ergebnislos blieben, machte die Reichsbahn den Vorschlag, zu dem Werk als Sachverständigen den bekannten Professor Andreas Achenbach von der Kunstakademie in Düsseldorf zu hören.
Andreas Achenbach (1815 bis 1910) war ein deutscher Landschaftsmaler der Romantik und lehrte an der Düsseldorfer Kunstakademie. Das Urteil von Professor Andreas Achenbach war vernichtend, als er „Jerusalem“ in Wanne gesehen hatte. Er bezeichnete die Arbeit als „Schweinerei“, die mit 200 Mark mehr als gut bezahlt sei. Dem Gutachten musste sich Wilhelm Beckebaum beugen und – Jerusalem fiel zum zweiten Mal, hier durch den Abriss von der Reichsbahn. Wo die Heilige Stadt gemalt worden war, rollten wenig später die Kohlen- und Güterwagen vom östlichen Rangierberg des Hauptbahnhofs.

Als eines Tages ein Bremser diesen Teil des Betriebsgeländes näher bezeichnen sollte, sagte er: „Das ist Jerusalem!“ Zuerst belacht, dann von Bediensteten und Arbeitern aufgenommen, wurde der Begriff später so üblich, dass er in den amtlichen Schriftwechsel übernommen worden ist. Er ist heute noch bekannt. Wilhelm Beckebaum, ein Urbild an Bauernschläue, rächte sich später für die geringe Bewertung seines Kunstwerks. Beim Verkauf des Hofes im Jahr 1885 hatte er ein Grundstück von 1 Morgen Größe behalten, worauf er ein Mietshaus baute, und das in der Voraussicht, dass ihm die Reichsbahn eines Tages wegen der Vergrößerung des Rangierbahnhofs das Haus abkaufen würde. Er hatte richtig kalkuliert. Die Bahn musste das Mietshaus zu einem überhöhten Preis kaufen, wodurch der Landwirt doch noch zu einem finanziellen Ausgleich für sein „Jerusalem“ kam.
(aus dem Buch: „Wäre nicht der Bauer, hätten wir kein Brot“ von W. Viehweger)


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