Das Fegefeuer am Gysenberg

Im Süden von Herne liegt der Gysenberg, an dem einst eine stolze Wasserburg stand. Gysenberg bedeutet „Quellberg“. Auf ihm, der zu den Castroper Höhen gehört, entspringen 14 Bäche, die in die Emscher fließen. Die Wasserburg wurde um 1200 im Auftrag des Erzbischofs von Köln gebaut. Ein Knappe kehrte dorthin von einer Mission zurück und erreichte um Mitternacht die heimischen Fluren. Da sah er plötzlich vor sich etwas aufhocken. Das Pferd sprang vor Schreck zur Seite und schleuderte den jungen Reiter auf den Boden. Der Knappe erwachte aus einer tiefen Ohnmacht und fand sich in einer vornehmen Halle. An mehreren gedeckten Tischen sah er Mitglieder des westfälischen Adels, von denen er viele zu deren Lebzeiten noch gekannt hatte, Bischöfe, Erbmarschälle und Reichsgrafen.
Aber sonderbar, so oft sie auch die Humpen hoben oder die Teller rührten, es war kein Geräusch zu hören. Ebenso lautlos bewegten Prälaten über ihren Brevieren die schmalen Lippen. Der Zuschauer bemerkte mit Grausen, dass er in das Fegefeuer des westfälischen Adels geraten war, der hier eine Tagung abhielt.
Also sprach er in seiner Angst ein Stoßgebet, wachte auf und fand sich gleich darauf vor der Burg des Herrn von Gysenberg. Als grauer und gebrochener Mann kam er hinein und fand sich nicht mehr zurecht. Es schien ein Menschenalter zwischen Ausritt und Rückkehr zu liegen. Nach einigen Wochen nahm den Verwirrten ein Kloster auf, wo er bald darauf gestorben ist.

An der Stelle, wo sich dem Knappen das Tor zum westfälischen Fegefeuer öffnete, wuchs bald darauf eine Buche, die an das Ereignis noch bis in unsere Zeit erinnerte. Karl Brandt schrieb darüber in der Herner Zeitung vom 19. September 1936: „Täglich wandern viele Herner hinaus in unseren schönen Stadtwald Gysenberg. Abgesehen vom Tiergarten ist es der Wald, der die Besucher immer wieder anlockt. Doch wenigen ist bekannt, dass im hinteren Teil des Gysenberges, nordöstlich des Gasthofes Kranenberg, eine recht seltsam gewachsene Buche steht, die ihresgleichen weit und breit nicht hat. Der Volksmund nennt diesen seltsamen Baum ‚die Torbuche’, und in der Tat, er sieht wie ein Tor aus. In etwa drei Metern Höhe sind nämlich zwei Buchenstämme zusammengewachsen. Sie bilden so einen Durchgang.“

(Aus dem Buch: „Moritaten“ von W. Viehweger)

 

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