Die Heulsusen

Es geht hier nicht um das Weinen, d.h., die gesteigerte Absonderung von Tränen bei tiefer Traurigkeit oder bei einem unerwarteten Glückserlebnis, z.B. einem Lottogewinn. Mit dem „Weinkrampf“ nähert man sich schon eher den Heulsusen, weil sie früh, mittags und abends ihre Umgebung mit einer Art von „Zwangsweinen“ tyrannisieren, das keiner besonderen Anlässe bedarf.
Die Heulsusen gehören wie die Haushunde zu den „Caninae“, die ihrerseits mit Wölfen und Schakalen verwandt sind. Sie kennen deshalb sowohl das „Hecheln“, ein rasches und keuchendes Atmen, wie auch das Heulen zur besseren Abschreckung von Feinden und Durchlüftung der Lungen, das mit erhobenem Kopf und offenem Mund minutenlang ausgestoßen wird. Es klingt – vor allem in geschlossenen Räumen – grässlich, erleichtert aber die Heulsusen, erregt Mitleid und ungeteilte Aufmerksamkeit.
Die Anlässe in der Schule sind geringfügig: Ein Schüler, in den Augen der Heulsuse ein „Stöberhund“, macht sie mit Worten an („Wie wäre es mit uns beiden nach dem Unterricht?“). Die Heulsuse stürzt schreiend zur Klassenlehrerin und schluchzt: „Der Marco will mich vergewaltigen!“ Der zur Rede gestellte Schüler wiegelt ab: „Mit der Kuh würde ich nie ein Verhältnis anfangen!“
Nach diesem knappen Wortwechsel, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt, geht die Heulsuse wütend nach Hause, wird von dem „Muttertier“ und dem „Jagdhund“ nach der Ursache ihres Kummers befragt und erscheint am nächsten Tag samt „Alttieren“ (Großeltern und Urgroßeltern) beim Direktor. Ihm wirft die Meute – unter Heulen, Bellen und Winseln – vor, nichts gegen die Vergewaltiger an der Schule zu unternehmen.
Die herbeigerufene Klassenlehrerin testiert der Heulsuse und ihren Verwandten, dass sie lediglich „Windspiele“ (Wahrheitsverdreher) und „Hetzhunde“ (aggressive Menschen) seien. Sie entgeht dem plötzlichen Überfall der Meute nur knapp und überlässt ihr den Direktor als Opfer.
Nachdem die Schulsekretärin die Polizei gerufen hat, lenkt die Heulsuse ein, da sie lange genug im Mittelpunkt des Geschehens gestanden und dieses genossen hat. Sie erklärt, dass Marco eigentlich ein ganz lieber Kerl sei. Die Familie kehrt darauf zum Menschsein zurück, zeigt geradezu zivile Verhaltensweisen und wünscht dem Direktor einen „Guten Tag!“

Wenn Klassenlehrer mehrere Heulsusen unter ihren Schülern haben, schließen sie am besten so viele Lebensversicherungen ab, wie Heulsusen anwesend sind; denn diese nehmen jedes noch so geringfügige Ereignis zum Anlass, ihre Meute zum großen Halali auf Schulkameraden, Lehrer und Direktoren zu rufen.

Wolfgang Viehweger

„Die Schulpsychologie berücksichtigt fast alle Faktoren, die seelische Störungen bei Schülern auslösen können. Sie will das Wesen von kranken jungen Menschen erfassen. Neben medikamentöser Behandlung bewährt sich heute besonders die Schocktherapie (Entlassung von der Schule) und die Beschäftigungstherapie (tägliche Hausaufgaben bis zu vier Stunden). Manche Patienten widerstehen allerdings jeder Behandlung.“ (Heinrich Pestalozzi)

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