Die Kunst, ein schlechtes Zeugnis zu präsentieren

Die schmerzliche Tour

Blass und müde kommst Du abends nach Hause. Das ist sicher nicht leicht, weil Du Laiendarsteller bist, kein Profi. Dein sorgenvoller Ausdruck soll den Eltern andeuten, dass nicht die Müdigkeit das Problem ist.
Bitte die Mutter zuerst um eine Kopfschmerztablette. Das wird sie beunruhigen. Versuche das aufkommende Jammern („Mein armer Junge!“) zu beschwichtigen: „Mir fehlt wirklich nichts!“ Du legst Dich einen Moment hin und erscheinst verspätet zum Abendbrot.
Die Mutter wird mit Sicherheit zum Vater sagen: „Der arme Junge ist heute nicht fit! Verlange nicht zuviel von ihm!“ Das ist der Moment, auf den Du gewartet hast. Lege mit behutsamer Gestik und leichtem Hüsteln dem Vater Dein schlechtes Zeugnis vor.

(„Für eine große Zahl von Schülerinnen und Schülern sind manche Bräuche unseres Schulsystems Ursache ständigen Ärgers. Das gilt auch für die Zeugnisse.“ – Heinrich Pestalozzi)

Die fröhliche Tour

 Aufgeräumt und guter Laune kommst Du nach Hause. Sobald Du den Vater erblickst, knüpfst Du mit ihm ein zwangloses Gespräch an. Erzähle ihm voller Schwung eine lustige Geschichte, die sich in der Schule zugetragen hat. Nachdem Du noch die originellsten Schülerwitze und geistreichen Streiche des vergangenen Monats zum Besten gegeben hast, fragst Du den überraschten Vater, ob man sich zu seiner Zeit in der Schule auch so köstlich amüsiert hat. Möglicherweise taut der sonst zurückhaltende Vater auf, gibt sich Erinnerungen hin und erzählt schmunzelnd dumme Streiche aus seiner Jugendzeit. Jetzt ist der Augenblick gekommen, dem Vater – brüllend vor Lachen – Dein schlechtes Zeugnis zu zeigen.

(„In Zeugnissen finden, ganz abgesehen von Zensuren, die sadistischen Bemerkungen der Lehrer kalt und grausam ihren Niederschlag.“ – Heinrich Pestalozzi)

Die fleißige Tour

Du hast bisher wenig getan, um den betagten Eltern im Haushalt zu helfen. Aber heute – am Tag Deiner Nichtversetzung – ist alles anders: Du gehst freiwillig zum Einkauf, räumst Dein Zimmer auf, wäscht Vaters Wagen, hilfst der Mutter beim Staub saugen und bist freundlich zu Deinen jüngeren Geschwistern.
Wenn alle zufrieden sind und Dich mit Wohlwollen anblicken, zeigst Du Dein schlechtes Zeugnis und schwörst, dass Dich leider die Lehrer in den Hauptfächern Deutsch, Englisch und Mathematik nicht leiden können. Du betonst, dass Du deshalb nicht rachsüchtig bist, weil Du ja im nächsten Jahr bessere Lehrer haben wirst und der Unterrichtsstoff Dir schon bekannt ist.

(„ Das Schreckliche ist, dass die Zeugnisse von mindestens einem Erziehungsberechtigten unterschrieben werden müssen. Wäre das nicht so, würden viele Zeugnisse einfach verschwinden. So aber – und das liegt am Schulsystem – wurden schon viele Familien wegen dieser Formalität brutal auseinander gerissen.“ – Heinrich Pestalozzi))
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