Beckumer Rechenexempel

In Beckum gab es früher keine Schule, weil für die Einwohner keine sachliche Notwendigkeit bestand, das Schreiben und Rechnen zu lernen. Im alltäglichen Leben der Bauernschaft genügten der niederdeutsche Dialekt, das Platt, und das Abzählen an den Fingern, wenn die Leute etwas addieren oder subtrahieren wollten. Ging eine Rechnung über die Zahl 10 hinaus, reichte es für die Partner, sich auf die Erde zu setzen und zu interpolieren, um eine Lösung zu finden. Das endete immer gut, weil z.B. die Zahl 20 aus 10 + 10 bestand und die Zahl 30 aus 10 + 10 + 10. Schwieriger war es schon, wenn es sich um Zahlen unterhalb der Zahl 10 handelte. Dann musste länger gerechnet werden.
Kamen die Beckumer Hausfrauen mittwochs oder samstags zum Recklinghäuser Markt vor dem Rathaus, dann hatten die freundlichen Marktfrauen für sie schon besondere Säckchen mit Obst und Gemüse, Fleisch und Wurst vorbereitet, welche Preissymbole enthielten, die auch für die einfachen Menschen verständlich waren. 10 Pfennig war ein kleiner schwarzer Längsstrich, 20 Pfennig trug zwei und 30 Pfennig drei Längsstriche hintereinander. Bei den teueren Artikeln waren die Preise mit langen roten Querstrichen ausgezeichnet, die untereinander standen. Es gab bei diesen Rechnungen nie Schwierigkeiten, weil die Käuferinnen aus Beckum nicht in der Lage waren, die Richtigkeit der Angaben zu kontrollieren.
Die Beckumer Rechenart wäre nicht in Frage gestellt worden, wenn nicht eines Tages der Beckumer Gemeindevorsteher Hans Timmerbrink auf den Gedanken gekommen wäre, statt des Dezimalsystems das Duodezimalsystem einzuführen. Das hatte familiäre, wirtschaftliche und geografische Gründe: Seine Frau hatte ihm 12 Kinder geboren, auf der Weide grasten 12 Kühe und von Beckum nach Recklinghausen betrug die Entfernung 12 Kilometer, wie er von einem Recklinghäuser Freund erfahren hatte. Anstatt nun dieses Wissen für sich zu behalten und den Dorffrieden zu achten, bestand Timmerbrink darauf, bei allen Rechnungen das Zwölfersystem zur Grundlage zu machen. Die Folgen waren entsetzlich. Es kam zu Schlägereien, weil die Rechnungen nicht mehr überschaubar waren, und das nicht nur im Wirtshaus. Es bildeten sich quer durch die Familien Parteien. Die einen hingen dem Dezimalsystem an und nannten sich „Die Alten“. Die anderen bevorzugten das Duodezimalsystem und hießen „Die Neuen“. Die Beckumer wurden unberechenbar.
Der Streit endete erst, als sich der Rat der Stadt Recklinghausen entschloss, in Beckum eine Gemeinschaftsschule zu bauen. Sie wurde von allen 300 Einwohnern besucht, Jungen und Alten, und führte nach 10 Jahren, - nach anderer Meinung waren es 12 Jahre -, wieder zum Frieden im Dorf.

Wolfgang Viehweger
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