Der schlaue Kater

Vor vielen Jahren lebte in dem Dorf Kampl, zwischen Fulpmes und Neustift im Stubaital gelegen, der Bauer Runger mit seiner Familie. Die Frau verdiente im Sommer als Sennerin ein Zubrot, die einzige Tochter war Servierfräulein (Saaltochter) im bayerischen Rosenheim. Joseph Runger fuhr zweimal die Woche nach Innsbruck hinunter, wo er in der Markthalle seine Produkte anbot: Eier, Käse, manchmal auch einige Holzfiguren, die er selbst schnitzte. Begleitet wurde er stets von einem Kater, welcher im Laufe der Zeit bei der Familie die menschliche Sprache gelernt hatte. Mit dem Bauern verband ihn eine besondere Freundschaft, weil er ihn therapeutisch behandelte. Da der Runger einen Bandscheibenvorfall hatte, legte sich der Kater nachts an seinen Rücken und linderte durch die Wärme seines Fells die Schmerzen des Patienten. Wegen seines roten Pelzes und seiner Schläue nannte ihn der Bauer „Fuchs“.
Eines Tages kam ein feiner Herr an den Stand des Stubaitalers und verlangte Eier. Das reizte den Runger, da der Kunde gar zu herablassend war, und er entgegnete: „Herr, wenn Ihr ratet, wie viele Eier ich in diesem Korb habe, bekommt Ihr sie gratis!“ Der Kunde überlegte kurz und antwortete: „Ich schätze, dass es 60 Stück sind.“ Das stimmte, und der Innsbrucker ging mit dem Korb fröhlich nach Hause, wobei er sich über den Trottel aus Kampl amüsierte. Doch hatte er nicht mit dem Fuchs gerechnet.

Dieser riet dem betröppelten Bauern, beim nächsten Markttag wieder 60 Eier in einem gleich großen Korb auf dem Markt in Innsbruck anzubieten, allerdings mit einer winzigen Änderung: Es sollten 5 Toneier im Korb versteckt sein. Der Runger solle, falls der Herr wiederkomme, ihm erneut eine Wette anbieten, ihn dabei aber die Zahl der „Hühnereier“ angeben lassen. Tatsächlich erschien der feine Herr am Stand und hatte gleich den Korb mitgebracht. Er stellte sich vor den Bauern hin, der wie der geborene Verlierer aussah, und warf auch einen flüchtigen Blick auf den roten Kater, dessen weißer Bart traurig herunterhing. „Wollen wir wieder wetten?“, fragte spöttisch der Kunde. „Eigentlich nicht“, meinte stockend der Runger, „Ihr seid mir zu schlau.“ Der lachte geschmeichelt und bot dem Bauern an, wenn dieser gewinne, wolle er ihm für den Verlust der 60 Eier aus der Vorwoche 60 Kronen draufzahlen. Der Runger überlegte lange, schaute erst auf den regungslosen Kater, dann auf den feixenden Innsbrucker und ging die Wette ein, indem er vorschlug, er solle diesmal die Zahl der „Hühnereier“ im Korb raten.
Der feine Herr wollte wegen der vermeintlichen Blödheit seines Gegenübers einen Moment lang auf das Angebot verzichten, weil er Mitleid verspürte. Dann sagte er jedoch: „In dem Korb sind 60 Hühnereier, lieber Mann.“ Der Runger entgegnete spitzbübisch: „Es sind 55 Hühnereier im Korb und 5 Toneier.“ Es wurde danach ein Schiedsrichter vom Nachbarstand geholt, der den Inhalt des Korbes prüfte und die Aussage des Bauern bestätigte. So musste der Verlierer wohl oder übel 60 Kronen zahlen und hatte zum Schaden auch noch den Spott der Markthändler. In Kampl, Fulpmes und Neustift verbreitete sich die Geschichte von der Wette in Windeseile. Seitdem hieß der Runger im Stubaital „Schlauer Fuchs“. Den Titel ertrug er ohne Widerspruch; doch wusste er, dass die Bezeichnung mehr seinem Kater gebührte. Der legte aber darauf keinen Wert.


Wolfgang Viehweger

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