Le Chasseur

Ungefähr 60 km südlich von Bastia auf der Insel Korsika liegt eine kleine Ferienanlage, genannt „Forêt“ (der Wald), obwohl der anspruchsvolle Name auf die wenigen Bäume, die es dort gibt, kaum zutrifft. Neben dem Bungalow des kürzlich verstorbenen Schauspielers Günther Pfitzmann, der ein Dauergast in Forêt war, fließt ein Bach, der Chiosura, der bei Linguizzetta entspringt, in das Mittelmeer.
Am Mündungsdreieck hatte vor einigen Jahren ein herrenloser Hund, der auf den Begriff „Rasse“ keinen Wert legte, sein Domizil und beobachtete im Sommer von einer Sandbank die Badegäste. Kamen an den Strand Kinder oder Jugendliche mit ausgemusterten Tennisbällen, um damit Fußball zu spielen, wurde der Hund lebhaft, kam herbei und mischte sich freundlich unter die Schar, indem er durch helles Blaffen andeutete, dass er mitspielen wolle. Erhielt er jedoch den Ball, vergaß er jedes Fairplay, nahm die Beute blitzschnell ins Maul und verschwand in der Macchia (im Gebüsch), wo er in einem Loch ein Vorratslager von Tennisbällen angelegt hatte. Das Tier bekam von den französischen Strandbesuchern wegen seiner Sammelleidenschaft den Namen „Le Chasseur“ (der Jäger) und machte ihm alle Ehre.
Im Herbst, als die Saison auf der Insel beendet war, kamen die menschlichen Jäger und hielten Ausschau nach herrenlosen Hunden und Katzen, die sie gnadenlos abschossen, weil sie der Meinung waren, dass die Tiere, die während der Saison in der Ferienanlage geduldet und von den Touristen gefüttert wurden, nun überflüssig seien. So stand eines Morgens vor dem Hund ein Jäger und hob das Gewehr, um ihn zu töten. Plötzlich bemerkte er das Vorratslager mit den Tennisbällen, worüber das Tier, das den nahen Tod ahnte, eine Pfote legte, als wolle es bis zuletzt die einzige Habe verteidigen, die ihm gehörte. Der Jäger schaute dem Hund in die braunen Augen, die ihm nicht auswichen, und fasste einen Entschluss. Der wurde ihm dadurch erleichtert, dass er von der Eigenart eines Hundes gehört hatte, der Tennisbälle sammelte. Der Mann senkte das Gewehr, sprach das Tier freundlich an und nahm es samt seinen Bällen mit nach Linguizzetta, wo er wohnte. Der Hund, welcher zum Haustier mit dem Privileg der regelmäßigen Ernährung und Zuwendung seines Herrn befördert wurde, begleitete diesen von nun an auf der Jagd, auch wenn er nicht mehr nach Tennisbällen suchte, sondern erlegtes Kleinwild apportierte, wie es andere Jagdhunde auch taten.


Wolfgang Viehweger

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