Mandy
Sébastien wohnte am Rande eines winzigen Dorfes auf der Insel Korsika,
nicht weit von der Stadt Bastia entfernt. Er besaß eine Hütte mit
Glasdach, da er die Gewohnheit hatte, jede Nacht zwischen drei und vier
Uhr in der Frühe – auf dem Bett liegend – die Sterne zu zählen, die er
durch das Dach sehen konnte. Darüber gab er jährlich einen Bericht an
die Sternwarte in Bastia, die ihm einen kleinen Betrag für seine Bemühungen
zahlte.
Ansonsten war Sébastien, der das Leben eines Junggesellen führte,
ein Tausendsassa (un véritable touche-à-tout), der im Ort Wasserleitungen
reparierte, die Motoren klappriger Autos wieder zum Laufen brachte
und im Sommer für Monsieur Pilot, den Busunternehmer der Region,
Touristen von den Flughäfen Bastia und Calvi abholte und in ihre Hotels
transportierte.
Sébastien hatte einen einzigen Freund, der auf ungewöhnliche Weise
zu ihm gekommen war. Eines Abends bemerkte er im Gebüsch vor seiner
Hütte etwas gelb und schwarz Schimmerndes. Furchtlos ging Sébastien
hin und entdeckte eine junge Tibet-Terrier-Hündin, die da lag und
ihn aus ihren schwarzen Augen anschaute. Der Mann sah sogleich, was
passiert war.
Das Tier war am Nacken von einer Kugel getroffen worden,
die glücklicherweise so in seinem Pelz steckte, dass sie die Hündin nicht
tödlich verletzt hatte. Aber sie litt an der Wunde und war von Durst gepeinigt.
Offenbar hatte sie sich mit knapper Not zu Sébastien geschleppt
und hoffte nun auf seine Hilfe.
Mit geübter Hand entfernte der die Kugel, reinigte die Wunde und
stellte „Mandy“, wie er spontan den kleinen Findling nannte, eine mit
Wasser gefüllte Schale vor.
In jener Nacht schlossen die beiden Freundschaft für das weitere Leben.
Mandy engte die Mobilität Sébastiens, die er zur täglichen Arbeit
brauchte, in keiner Weise ein, da sie ihn stets begleitete und sich äußerst
diskret verhielt, indem sie z. B. die Touristen an den Flughäfen, die nach
fremden und aufregenden Ländern rochen, kaum beschnüffelte und nie
anbellte.
Als Sébastien eines Tages erfuhr, dass Mandy von ihrem eigentlichen
Besitzer ausgesetzt und – weil sie diese Maßnahme nicht akzeptierte
– von ihm angeschossen worden war, stellte er den Bösewicht nicht zur
Rede, sondern schaute in Mandys wissende Augen, liebte sie noch mehr
und freute sich darüber, dass sie das Vertrauen zu den Menschen nicht
verloren hatte. Mandy zeigte sich ihrerseits mit dem Leben bei Sébastien
sehr zufrieden, war es doch abwechslungsreich und voller Gerüche; außerdem
hatte ihr Monsieur Pilot eine Reklamemütze geschenkt, die sie
voller Stolz trug, wenn eine Busfahrt bevorstand.
Wolfgang Viehweger
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