Romeo
und Julia
1. Akt: Vorstellung der Nebenpersonen
In Andernach lebte vor Jahren die Familie Haag mit den Kindern Daniela
und Dennis. Mutter Rita, die bei der örtlichen Zeitung als Direktionssekretärin
arbeitete, neigte wegen intensiven Rauchens zu Allergien.
Deshalb wehrte sie sich hartnäckig gegen die Anschaffung von
Haustieren. Daniela, die 12-jährige Tochter, wünschte sich nämlich einen
Hund; Dennis, der 10 Jahre alt war, wollte eine Katze. Vater Walter
war als Physiker bei der Elektrofi rma „Balzers“. Dort wurde ihm
eines Tages mitgeteilt, dass das Unternehmen aus Gründen der Rationalisierung
mit dem Stammpersonal nach Grabs im Kanton St. Gallen
umziehen werde. Den Wechsel von Deutschland in die Ostschweiz, dazu noch in ein
schönes Haus mit Terrasse und Garten im Rheintal, nahmen die Kinder
zum Anlass, ihre Wünsche durchzusetzen.
II. Akt: Vorstellung der Hauptpersonen
So bekam Daniela einen Gordon-Setter-Welpen, der ein schwarzes
Fell trug, während Läufe und Brust mahagonifarben waren. Über den
Augen, gewissenmaßen als Augenbrauen, hatte er die typischen „Setterflecken“.
„Romeo“, wie ihn Daniela nannte, blickte aus melancholischen Augen
in die Welt.
Dennis erhielt eine schwarze Langhaarkatze, die sehr verschmust
war und ein klassisches Gesicht mit großen grünen Augen besaß, weshalb
der Vater, der Shakespeares Dramen durchaus kannte, den Sohn
drängte, sie „Julia“ zu nennen.
III. Akt: Verdeutlichung der Charaktere / Konflikte
Da die beiden Tiere zur gleichen Zeit ins Haus kamen und jung und
lernfähig waren, dauerte die Gewöhnung nicht sehr lange. Das lag zum
Teil auch daran, dass sie - außer den Kindern - keine anderen Artgenossen
als Spielkameraden hatten.
Julia übernahm sehr schnell das Kommando und überzeugte
den Hund, dass sie nicht wirklich böse war, wenn sie einmal einen Buckel
machte und mit dem Schwanz wackelte. Dafür mußte ihr Romeo
versichern, dass nicht sie gemeint war, wenn er manchmal dumpf
knurrte.
Nach einem halben Jahr klappte die Verständigung so gut, dass der
Hund die Katze zur Entenjagd ins Rheintal mitnehmen konnte, auch
wenn sie nie eine Ente erwischten. Julia zeigte ihm ihrerseits, wie man
stundenlang während der Mäusejagd vor Löchern auf den Wiesen wartet,
um im rechten Moment die Beute zu fassen. Heimlich wunderte
sie sich, dass es Romeo oft an der nötigen Geduld und Geschicklichkeit
fehlte, auch konnte er Mäuse nicht jagdgerecht zerlegen wie sie, sondern
schluckte sie blitzschnell mit Haut und Haar hinunter, um dann hinterher
noch hungriger auszusehen als vorher.
IV. Akt: Höhepunkt der Konflikte
Das Drama für die beiden, die ihren Namen noch alle Ehre machen
sollten, begann, als Mutter Rita zusätzlich zu ihren Allergien noch eine
Katzenallergie bekam.
Die Eltern einigten sich deshalb mit Dennis, dass die Nachbarin, die
damit einverstanden war, Julia übernehmen sollte. Obwohl die Tiere
nicht befragt wurden, führte man den Plan sofort durch.
Die Nachbarin sollte die Katze ein paar Tage im Haus behalten. Später
werde man weitersehen. Julia könne wieder ins Freie und ab und zu
auch mit Romeo in den Gärten spielen.
Der Hund hielt die Trennung einige Stunden aus, die Katze überhaupt
nicht. Jämmerlich miauend und weinend saß sie an einem Terrassenfenster
des Nachbarhauses und schaute über die Pergola, die mit wildem
Wein überwuchert war, in den Garten.
Das eigene Heim konnte sie, die
jede Nahrung verweigerte, nicht sehen.
Romeo, der sich seinerseits wunderte, dass seine Spielkameradin plötzlich
verschwunden und gemeinsame Plätze verwaist waren, hörte in der
Nacht nach der Trennung die Hilferufe seiner Freundin.
Ohne zu zögern, drückte er eine unverschlossene Tür auf, rannte wütend
durch die Gärten zum Nachbarhaus und blickte endlich zu dem
Fenster empor, wo er deutlich seine Julia sehen konnte.
Während die verstummte und darauf wartete, was er zu ihrer Rettung
tun würde, überlegte der Hund, wie er zu dem hohen Fenster über der
Pergola gelangte. In der Annahme, dass er über den wilden Wein – wie
über einen Teppich - zu seiner Geliebten schreiten könne, brach er unversehens
so unglücklich in das Gitter ein, daß er sich nicht mehr bewegen
konnte. Die Drähte, die für die Weinranken gespannt waren, strangulierten
ihn.
Er konnte also weder bellen noch auf andere Art auf sich aufmerksam
machen. Vergeblich versuchte er mit den Pfoten Halt zu finden
und strampelte vor Todesangst.
Julia, die das Unglück beobachtet hatte, schrie fürchterlich und weckte
dadurch die Nachbarin. Als sie der Ursache des Lärms nachging,
schien es für den armen Romeo fast zu spät.
Die Frau telefonierte kurz mit Herrn Haag, lief dann auf die Terrasse,
stieg auf den Tisch und hob den Hund von unten so an, dass er nicht
mehr mit dem Hals in den Drahtschlingen hing. Walter Haag befreite Romeo schließlich, indem er über das Fenster,
wo Julia gewartet hatte, auf den Rahmen der Pergola stieg, den Verletzten
aufnahm und ins Haus trug.
Während man auf den Tierarzt wartete, bot sich den Betrachtern ein
Bild des Jammers: Romeo lag ohnmächtig mitten im Wohnzimmer; Julia
saß einer Statue gleich vor ihm, gelähmt vor Schmerz und hielt den
Blick ihrer grünen Augen so zwingend auf ihn gerichtet, als könne sie
ihn auf diese Weise am Leben halten.
V. Akt: Läuterung der Charaktere / Lösung
Der Tierarzt, der gar nicht froh war, in der Nacht geweckt worden zu
sein, beendete das betretene Schweigen der Menschen, die den Tieren
dieses Leid angetan hatten, ohne es zu beabsichtigen.
Er stellte nach kurzer Untersuchung und Behandlung mit dem Beatmungsgerät
fest, dass der Hund gerettet werden könne, wenn er auch für
einige Tage in die Tierklinik müsse. Sein Kehlkopf scheine verletzt zu
sein.
Noch in dieser Nacht wurde Julia von den Haags, die sich Vorwürfe
machten, wieder mit nach Hause genommen, ungeachtet aller Allergien.
Die Katze schwieg und wartete auf ihren Freund.
Shakespeare hätte seine Freude gehabt, wenn er die beiden tierischen
Darsteller in dieser Situation erlebt hätte.
Epilog (Nachwort)
Romeo hat keine bleibenden Schäden davongetragen. Seit jener Nacht
der misslungenen Rettung von Julia macht er allerdings um die schöne
Terrasse der Nachbarin und die Pergola, worauf der wilde Wein im
Herbst wunderbar rotgolden leuchtet, einen großen Bogen. Er geht lieber
mit Julia, die ihm nicht von der Seite weicht, auf Mäusejagd und Entenfang
in den Rheinwiesen.
Wolfgang Viehweger |