Voltaire
Nahe bei Murten, im Kanton Fribourg, liegt das unscheinbare Dorf Cressier. Die Einwohner des Ortes haben jedoch eine Besonderheit,
sie mögen die Murtener nicht. Das beruht auf Gegenseitigkeit. Keinem
Murtener würde es je einfallen, nach oder durch Cressier zu fahren; lieber
macht man Umwege. Im August 1995 wurde diese Gewohnheit empfindlich gestört, was in der Folge beinahe die gesamte Schweiz in ihren
demokratischen Grundfesten erschüttert hätte.
Die Familie Keller baute nämlich an der „Route de la Roche“ ein
Haus, was ein Kater aus Murten beobachtete, der immer wieder heimlich
über die Ortsgrenzen wechselte. In der Meinung, dass das Haus für
ihn errichtet werde, vielleicht auch deshalb, weil er sich bei seinen Pflegeeltern vernachlässigt fühlte, zog er bei der Fertigstellung des Gebäudes
mit großer Selbstverständlichkeit ein.
Frau Keller staunte, als sie bei
der Begehung des Hauses im Wohnzimmer einen getigerten Kater vorfand,
der es sich im Fernsehsessel bequem gemacht hatte und sie erwartungsvoll
anblickte. Auf die Fragen, wie er heiße und woher er komme,
konnte er zwar nicht direkt antworten; weil er aber den freundlichen Ton
bemerkte, fing er an zu schnurren.
Da die Kellers in den nächsten Tagen nicht herausbekamen, wohin
der Kater abends manchmal ging und wem er gehörte, beschlossen sie,
ihn zu behalten, gaben ihm aber zunächst keinen Namen. Einige Wochen
später kam Tochter Patricia traurig nach Hause und berichtete, dass
im Lebensmittelladen eine Suchmeldung aushänge, worin eine Familie
aus Cressier ihren Tigerkater „Strolchi“ suche. Wie sich bei der Besichtigung
des Tieres herausstellte, war der Kellersche Kater jedoch nicht
„Strolchi“, er sah ihm nur ähnlich.
Den Wahrheitsbeweis trat er dadurch an, dass er sich zwar in die
Wohnung der anderen Familie mitnehmen ließ, diese aber mit Verachtung
strafte und kurze Zeit später wieder bei den Kellers auftauchte.
So hielten sie es nach einem halben Jahr für angebracht, den Kater zu
adoptieren, indem sie von einer Tierärztin in Murten einen Impfausweis
auf den Namen „Strolchi Keller“ ausstellen ließen; auch gaben
sie das ungefähre Alter, seine Farbe und sein Gewicht an. Alles war
damit amtlich geordnet und deutete auf ein glückliches Zusammenleben
hin, bis der Kater, der Namen und Adresse der Kellers am Halsband
trug, nach einem Abendspaziergang mit einem zusätzlichen roten
Schildchen heimkehrte, worauf stand: „LE CHAT EST À NOUS. IL
S´APPELLE VOLTAIRE !“
(Die Katze gehört uns. Sie heißt Voltaire). Darunter stand die Telefonnummer
des Eigentümers.
Als Heidi und Jürg Keller, bisher unbescholtene Bürger von Cressier,
erfuhren, dass der Kater dem Bürgermeister von Murten gehörte, bekamen
sie einen Schreck. Neben der Peinlichkeit für die Familie waren
weitere Spannungen und diplomatische Verwicklungen zwischen Murten
und Cressier zu befürchten, ja, es drohte geradezu ein „Katerkrieg“
wegen heimtückischer Aggression der Leute vom Lande auf die städtische
Ordnung, in diesem Fall auf den Bürgermeister Sunnier und sein
rechtmäßiges Eigentum. Nach mehreren Telefonaten und Krisensitzungen beiderseits der
Grenzen wurden „Friedensmänner“ (Schiedsmänner) bemüht.
Diese
beschlossen, man solle den Kater selbst entscheiden lassen, bei wem er
leben wolle. Der Kater entschied sich sofort für die Kellers. Offenbar
hatten ihn die Kellers, ihr großer Garten und das Leben auf dem Lande
völlig überzeugt. Außerdem spielte die Politik eine Rolle: Die Sunniers
hatten soviele gesellschaftliche Verpflichtungen, dass der Kater sich nicht
genügend gewürdigt fühlte. Es gab allerdings noch ein kleines amtliches
Hindernis: Die Tierärztin in Murten führte im Register denselben Kater
als Voltaire Sunnier von Murten und als „Strolchi Keller“ aus Cressier.
Man einigte sich schließlich auf den Namen „Voltaire Keller“, was auf
das große Geschick der „Friedensmänner“ zurückzuführen war. Auch
dem Tier schien der Name zu gefallen.
Herr Sunnier übrigens trug die Abwahl durch den eigenen Kater gelassen,
wie es Politiker bei Niederlagen i m m e r tun.
Wolfgang Viehweger
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