Der Berg rührt sich

Seit sie Lehrhauer auf der Zeche Mont Cenis waren, hatte Karl Montford seine liebe Not, den Kumpel Gerhard Arnaud für ein Glas Bier zu gewinnen. Dieser war von zurückhaltender Lebensart. Manchmal gingen sie nach Feierabend in den kleinen Garten bei den Montfords, luden Heinrich Potthof ein und vertrieben sich die Zeit mit dem Kartenspiel. Bisweilen gingen sie durch den Emscherbruch, der einen Blick in die Vergangenheit lebendig hielt: Fichten, Birken, hohe Farne und Heidekraut luden zum Spaziergang ein. Gerhard liebte diese Gegend, er konnte dort lange sitzen und in das geheimnisvolle Wasser der Sümpfe schauen. Eines Tages schafften die beiden in einem neuen Flöz. Eine Muldenstrecke war aufgefahren. Karl Montford hatte eine feine Witterung dafür, wenn sich etwas vorbereitete, was nicht geheuer war. Sein Freund merkte das, sagte aber nichts. Plötzlich begannen sie zu horchen. Jedes feine Knirschen, jedes Zittern und Murren der Kohle war ihnen verdächtig, obwohl sie doch längst an das Reißen im Gestein gewöhnt waren. Eben hatte sich Karl wieder mit der Keilhaue an das Bühnloch gemacht und Gerhard wollte den Stempel holen, da brach es herein. Die Nebengebirge quetschten die Kohle heraus, Massen stürzten. Gerhard war in eine Staubwolke gehüllt, konnte im letzten Augenblick zurückspringen und rettete sich vor dem Kohlenwall. Seine Lampe brannte noch und verbreitete einen spärlichen Schimmer. Als der Staub sank und die Sicht freier wurde, fand er Karl, halb verschüttet, ohne Bewegung. Er grub ihn mit bloßen Händen aus, ohne auf Verletzungen zu achten. Mit dem Steiger Kurt Wollenberg und anderen Kumpeln wurde Karl schließlich schwer verletzt herausgezogen. Doch immer noch trieb der Berggeist sein Unwesen und warf mit Steinen nach ihnen.

(Die Zeche Mont Cenis wurde 1869/70 von Kapitalanlegern aus Lyon, Paris, Brüssel und Namur gegründet. Sie behielt - trotz der beiden Weltkriege - ihren französischen Namen bis zur Schließung am 31. März 1968.)

Wolfgang Viehweger

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