Fred Endrikat – „Jeder sucht sich selbst seinen Himmel“
Vom Pferdejungen aus Crange zum Kabarettisten in Schwabing

Im Jahr 1890, als Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. sich als „Verspätete Nation“ auf den Weg zur Weltmacht begab, wurde im Juni desselben Jahres – viel zu früh und unerwartet – Fred Endrikat während einer Reise seiner Mutter zu Verwandten nach Posen geboren.

Seine sechs Geschwister waren „Echte Cranger“ von der Heerstraße. Seine Mutter kam aus der westpreußischen Stadt Posen, die bis 1902 ihre mittelalterlichen Befestigungsanlagen behielt, mit dem Sohn Fred, geboren in einer Klinik der Vorstadt Wallischei, nach Wanne-Eickel zurück. Fred Endrikat hat sich später über das Chaos, welches er durch seine voreilige Geburt angerichtet hatte, satirisch geäußert. Auf der Volksschule in Crange war er dem Zeichnen und der Poesie zugetan, auch las er viel und intensiv, was in dem kleinbürgerlichen, bildungsfernen Milieu seiner Familie eigentlich nicht üblich war. Der Vater war Bergmann. Mit 14 Jahren kam Fred in die Schlosserlehre, um einen soliden Handwerksberuf zu erlernen. Jedoch eignete er sich nicht dazu und brach die Lehre bald wieder ab. Auch als Pferdejunge auf der Zeche Shamrock III/IV in Wanne hatte er keine Ausdauer und auch als Lehrhauer fand er keinen Zugang zu der Arbeit, die ihm angeboten wurde. Stattdessen schrieb er Gedichte, lustige Texte und Sketche, welche er auf der Kleinkunstbühne der Gaststätte Nehring in Wanne-Süd abends den Gästen vortrug.Den Weg in den Umkreis der neuen Sachlichkeit der Literatur nach dem Ersten Weltkrieg beschritt er in dem Bestreben nach Desillusionierung und Entheroisierung nach dem Pathos und der Phraseologie der Kaiserzeit. Das bewegte ihn zur Darstellung des „Kleinen Mannes“ und zur parodistischen und satirischen Entlarvung von Zeiterscheinungen. Außerordentliche Wirkung hatten damals in dem Metier Joachim Ringelnatz (1883 bis 1934) und Karl Valentin (1882 bis 1948), die in dem alten „Simpl“, einem Lokal in dem Münchener Stadtteil Maxvorstadt, und im neuen „Simplicissimus“ (ab 1903) in der Türkenstraße grotesk-surrealistisches Theater spielten, Stegreifkomödien aufführten und bei Vorträgen hintergründigen Unsinn, unlogische Wortspiele und aggressive Zeitkritik dem interessierten Publikum vortrugen.Zu den Stammgästen in den Künstlerkneipen Münchens, wozu auch das „Café Stefanie“ in der Amalienstraße zählte, gehörten Olaf Gulbransson und andere Autoren im Kreis der literarischen Zeitschrift Simplicissimus, wie Frank Wedekind, Ludwig Thoma und Thomas Theodor Heine.Als zwischen 1903 und 1914 die erste Blütezeit in der Schwabinger Künstlerszene zu Ende ging, sorgten neue „Vortragskünstler“ für kulturelle Impulse, wie die Lyrikerin, Diseuse und Tänzerin Marietta di Monaco (1893 bis 1981), die eigentlich Maria Kirndörfer hieß, der spätere Schallplatten-Star Max Hansen, der Sänger Walter Hillbring und die Kabarettisten und „Vagabunden“ Theo Prosel und Fred Endrikat. Wie dieser den Weg nach München gefunden hatte, hat er nie genau mitgeteilt. Es dürfte ein sehr beschwerlicher und entbehrungsreicher für einen Bohémien ohne Beruf, ohne Geld und ohne festen Wohnsitz gewesen sein, getragen von dem Willen, seinen Himmel zu suchen und zu finden. Ein Antrieb mag auch das Bewusstsein gewesen sein, dass er seinen Eltern beweisen wollte: Nicht nur das Handwerk ernährt den Mann, sondern auch die Kunst!In München faszinierte ihn die drei Jahre jüngere Marietta di Monaco. Ihr Markenzeichen war der literarische Vortrag, meist Lyrik, mit seltsam gebrochener Jungmädchenstimme. Sie war eine kleine, zierliche Frau, bildschön und eine unnachahmliche Interpretin und Tänzerin. Fred Endrikat verliebte sich in sie, ernannte sie zu seiner „Dichtermuse“ und trat mit ihr auf. Enge Freundschaften unterhielten die beiden auch mit Joachim Ringelnatz, Frank Wedekind, Hans Arp, Hugo Ball, Marcel Janco, Peter Paul Althaus und „Klabund“, wie der Deckname des Schriftstellers Alfred Henschke (1890 bis 1928) lautete, welcher sich als Nachfahre des Vagantendichters FranVois Villon fühlte. Das Verhältnis zwischen Fred Endrikat und Marietta di Monaco dürfte ähnlich gewesen sein wie das von Karl Valentin zu seiner Partnerin Lisl Karlstadt, „simpl, fragil, musisch ...“Die Königin der Schwabinger Bohème, die „Muse Schwabylons“, blieb für Fred Endrikat immer die kleine Marietta mit der Jungmädchenstimme. Er schrieb Texte für sie und für andere Künstler, veröffentlichte in literarischen Zeitschriften, stand als Vortragskünstler und Kabarettist auf verschiedenen Bühnen, hielt Lesungen und kehrte ab und zu in seine Heimat zurück. Er erlebte nicht mehr die Zerstörung des alten „Simpl“ durch Bomben am 13. Juli 1944, da er zwei Jahre vorher starb. Fred Endrikat hat seine letzten Jahre in Leoni am Starnberger See verbracht. Bestattet ist er auf dem Münchener Waldfriedhof. Seine Bücher sind im Buchwarte-Verlag in Berlin erschienen, nach dem Zweiten Weltkrieg in den Verlagen Blanvalet und Goldmann. Wenn man Glück hat, kann man noch einen der Bände antiquarisch erwerben. Aus dem Buch „Liederliches und Lyrisches“ stammt das Gedicht „Es gibt ein Stück Erde“, woraus einige Zeilen hier zitiert werden. Das Gedicht ist Crange gewidmet:

„Es gibt ein Stück Erde, an dem man klebt,
und das man im Herzen stets lieb behält.
Die Scholle, auf der man die Kindheit verlebt,
vergisst man niemals im Trubel der Welt.
Man kennt jedes Steinchen und weiß jeden Laut.
Es taucht vor uns auf, so lebendig und wach,
das Haus mit dem Gärtchen, so heimisch vertraut.

Die Tauben girren noch auf dem Dach.
Die rissige Mauer mit dem wilden Wein,
berankt bis zum Giebel grün und dicht.
Die Stare nisten am Dachfensterlein.
Der Vater kommt müde heim von der Schicht...“

Der Rat der Stadt Wanne-Eickel hat nach Fred Endrikat am 16. April 1964 eine Straße benannt und damit gewürdigt, dass er sich mit seiner Heimat immer verbunden fühlte, auch wenn er in der Ferne lebte.

Wolfgang Viehweger

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