Die Franzosenzeit in Herne
(Bericht von Johannes Decker)


Nach Herne kamen die ersten Franzosen am 15. Januar 1923. Sofort wurde das Postamt besetzt. Große Plakate verkündeten, dass wir jetzt Gefangene waren. Keiner durfte mehr das Ruhrgebiet verlassen, keiner kam herein. Herne war Sitz des Generalstabs des 32. französischen Armeekorps mit vier Generälen, dreißig Stabsoffizieren, 300 Soldaten und 85 Pferden. Die Stadtverwaltung musste die notwendigen Unterkünfte beschaffen. In der Oberrealschule und der Gräffschule waren die französischen Schreibstuben untergebracht. Mit Soldaten belegt waren die katholischen Schulen an der Wilhelmstraße, der Bismarckstraße, der Schule in Horsthausen, der evangelischen Schule an der Schulstraße und das Gebäude der Berufsschule. Fast sämtliche Säle der Stadt wurden als Quartiere beschlagnahmt.
Gleich nach dem Einmarsch der Franzosen kam die Erklärung des passiven Widerstands. Eisenbahnen, Zechen und Fabriken stellten die Arbeit ein. Viele Eisenbahner, Werksbeamte und Arbeiter wurden verhaftet und im Auto über die Grenze gebracht. Die Familien folgten meistens einige Tage später den „Ausgewiesenen“. Bald trat Lebensmittelknappheit ein. Die Preise stiegen. Der Grenzschmuggel blühte. Als das Kanalbett des Rhein-Herne-Kanals durch Sabotage zerstört wurde und der Verkehr still gelegt war, durfte sich keiner in der Zeit von abends 20 Uhr bis morgens 5 Uhr auf der Straße sehen lassen. Keine Straßenlaterne brannte. Jeder musste in der Dunkelheit eine Laterne tragen. Zur Ausreise aus dem besetzten Ruhrgebiet war ein Pass mit französischem Stempel vorgeschrieben. An den Grenzbahnhöfen wurden für neue Gegenstände und Waren hohe Zollabgaben verlangt.

(aus: Heimatbuch der Stadt Herne, herausgegeben von Johannes Decker, Verlag Koethers & Röttsches, 1927, S. 50 f.)

Wolfgang Viehweger

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