Die weiße Frau von Schloss Berge

 

Auf den meisten Schlössern im Emscherland lässt sich von Zeit zu Zeit eine weiße Frau sehen. Im Schloss Berge hat das folgende Bewandtnis:
In den französischen Parkanlagen, die gleichzeitig mit dem Schloss nach 1780 angelegt wurden, stehen neben der Rosette zwei Sandsteinfiguren, Flora und Aphrodite. Diese soll aber nach der Sage nicht die Göttin, sondern die Ahnfrau der Grafen von Westerholt-Gysenberg sein, die Gräfin Wilhelmina Friederike. Diese war wunderschön, verstarb aber früh. Auf dem Totenbett soll sie sich gewünscht haben, an allem Leid und aller Freude im Schloss fürderhin und ewig teilzunehmen. Dieser Wunsch fand Gefallen bei Gott und ging in Erfüllung. Überdies ließ ihr Gatte Graf Ludolf Friedrich eine Sandsteinfigur mit den Zügen seiner Frau im Park aufstellen, um die Erinnerung an die Verstorbene wach zu halten. Sobald ein Hochzeitsfest oder ein Tanzvergnügen stattfindet, steigt seitdem die Gräfin in einem weißen Ballkleid vom Sockel und schreitet vom Park zum Schloss hinüber. Am Tor macht ihr ein Posten, der dort in altertümlicher Uniform Wache hält, seine Referenz. Wenn er sich neugierig nach der schönen Dame umsieht, erhält er von ihr ein kleines Lächeln. Im Schlosssaal nimmt die weiße Frau an einem reservierten Tisch Platz. Vor ihr stehen zwanzig rote Nelken. Es gibt kein Gedeck und keinen Tischnachbarn. Die Gräfin mustert die Gäste schweigend, erhebt sich nach einer Weile und wird vom Gastgeber höflich zur Tür geleitet. Findet eine Trauerfeier statt, mischt sich Wilhelmina Friederike von Westerholt-Gysenberg in einem schwarzen Kleid mit dunklem Umhang unter die Gäste. Am Arm trägt sie nach alter Sitte einen Trauerflor. Auf ihrem Tisch stehen zwanzig weiße Nelken. Da die weiße Frau nicht aufdringlich wirkt, lässt man sie gewähren und weist die Gäste, die ihr zum ersten Mal begegnen und dem Personal neugierige Fragen stellen, diskret darauf hin, dass auf Schloss Berge die Geschichte noch sehr lebendig ist.

Wolfgang Viehweger

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