Die Mogler

Man kann sie zwar tadelnswerte und nichtswürdige Geschöpfe nennen, aber man darf sie bei der Typisierung nicht übergehen. Eltern, die Mogler in die Welt gesetzt haben, ahnen, dass die Geburt solcher Früchtchen kaum zu rechtfertigen ist. Allerdings wissen sie auch, dass ihre mogelnden Kinder es im Leben zu etwas bringen, da sie reich, mächtig und gefürchtet werden. Die Mogler sind eben mit allen Wassern gewaschen.
Sie verbringen ihre Zeit damit, den Inhalt von Lehrbüchern in mikroskopisch kleiner Schrift auf verschiedene Flächen zu übertragen: Hände, Hemden, Schulbänke, Bäuche, Papierfetzen und Fensterecken. Sie handeln dabei wie Zauberkünstler, die Gegenstände verstecken und bei Bedarf wieder auftauchen lassen.
Das alles bedeutet einen riesigen Aufwand, der dann nutzlos wird, wenn die Mogler ihre Verstecke nicht mehr finden, weil sie diese vergessen oder zu raffiniert angelegt haben. Intelligente Mogler bemerken – meist am Ende der Schulzeit -, dass sie vor lauter Abschreiben den gesamten Unterrichtsstoff inzwischen auswendig können. Reumütig geben sie das Mogeln auf und zeigen den Lehrern gegenüber nun ein gutes Gewissen.
Andere bleiben Mogler ihr ganzes Leben lang und gehören zu den Outlaws, die beste Chancen haben, einen goldenen Ruhestand zu erreichen, weil sie sich Vorteile verschaffen, die ehrlichen Menschen verwehrt sind. Die Mogler ähneln in vielerlei Hinsicht Sportlern, die unerlaubte Mittel vor dem Wettkampf einnehmen und dann Siege davontragen, obwohl sie diese nicht verdient haben.
Natürlich gibt es große Unterschiede zwischen mogelnden Schülern und manipulierenden Sportlern, was die Begründung betrifft: Sportler machen Abführmittel, Hustensaft oder Zahnpasta für ihre positiven Befunde verantwortlich; die Mogler schieben ihr verwerfliches Tun den Eltern zu, die aus ihnen „Wunderkinder“ machen wollten, weil sich das Genie der Eltern erst in den Kindern zeige.
Mogler stehen also unter permanentem Erfolgszwang, der sie zu unerlaubtem Handeln geradezu zwingt. Man kann sich aber leider seine Eltern nicht aussuchen.

Wolfgang Viehweger

„Es gibt unglückliche Schüler, die der traurigen Leidenschaft verfallen, kaum ihre Lehrbücher anzurühren und nie ihre Hausaufgaben zu machen. Diese Schüler hassen alles Geschriebene und haben den Drang, Bücher und Hefte zu verunzieren oder sogar zu zerstören, was sie zuweilen im Klassenraum realisieren.“ (Heinrich Pestalozzi)
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